Post by Walter SchmidPost by Gerald FixVielleicht eine dumme Frage, aber: Wie beurteilt ein Fachmann eine
Komposition?
In Oliver Hilmes' Alma-Mahler-Biografie heißt es, Alma habe
Kompositionsunterricht genommen; da der Lehrer aber blind gewesen sei,
habe er die Werke nur nach Gehör beurteilen können. Den Laien
wundert's ... er denkt sich, das Ohr sei nicht das Unwichtigste an der
Musik.
Musik ist Zeitkunst. Da die Zeit in einer unumkehrbaren,
eindimensionalen Richtung verläuft, ist es sehr schwer, die
Struktur von Musik ohne grafische Darstellung zu erkennen.
Letztere ist mindestens 2-dimensional und kann auch 'rückwärts'
betrachtet werden.
Früher, bevor es Tonkonserven gab, und als geschriebene oder
gedruckte Noten noch einen immensen (matieriellen) Wert hatte,
also man sich weder eine Platte noch Songbooks oder Partituren
frei Haus bestellen konnte, da gab es keine andere Möglichkeit
als entweder möglichst viel "Inhalt" entweder gleich vor Ort zu
"verarbeiten" oder sich die Musik sicher einzuprägen, so dass
sie später vor dem "inneren geistigen Auge/Ohr" analysiert werden
kann, wobei natürlich eine Musikausbildung und vor allem Praxis
entscheidend beiträgt.
Post by Walter SchmidEin Blinder müsste ein 'fotografisches Gedächtnis' haben oder
entwickeln, um Musik so zu verstehen, wie das ein sehender
Musikprofi kann.
Der blinde Organist Helmut Walcha http://de.wikipedia.org/wiki/Walcha
hat die Gesamtausgabe von Bachs Orgelwerken, die er im Kopf hat, am
Stück eingespielt.
Aber ein 'fotografisches Gedächtnis' braucht man nicht. Ich, z.B. kann
mir Musik auch ohne 'inneren Rückgriff' auf die graphische Darstellung
vorstellen.
Post by Walter SchmidBlinde haben also notwendigerweise einen
laienhaften Erst-Zugang zur Musik,
Das hängt, wie ich oben schrieb, von der Vorbildung ab, und galt,
wie ich oben schrieb, die längste Zeit für die meisten "Konsumenten".
Post by Walter Schmid- der aber durch Uebung beliebig ausgebaut werden kann.
Der "Erst-Zugang" kann ausgebaut werden? Dazu brauchst du aber
auch keine Noten.
12-Ton-Themen z.B. können auch die aller meisten musikalisch sehr
geschulten Leute erst (analysierend) 'verstehen', nachdem sie das
Thema in einem (je nach konkretem Thema) langwierigen Prozess
auswendig gelernt haben, denn die meisten Leute könnten anders
solch ein Thema gar nicht nachsingen, innerlich oder laut, geschweige
denn, beim ersten Hören das Notenbild erfassen und sich einprägen.
Es gibt natürlich immer wieder mal Talente, die mit derlei Dingen
keine Mühe hatten, bekannt sind z.B. Toscanini und Karajan
Post by Walter SchmidKennt jemand einen blindgeborenen Komponisten von Rang?
Tja, heutzutage geht so was ja durchaus...
Taube Schlagzeuger gibts jedenfalls viele ;)
Da fällt mir Hu Haipeng ein, ein blinder lebender Komponist,
http://lilypond.org/examples.html ganz unten 'Large Projects'.
http://composersforum.ning.com/profile/HuHaipeng
Post by Walter SchmidHörte nicht J.S.B. auf zu komponieren, als er erblindete?
Was heisst Komponieren? Ohne Aufschreiben war das für Bach
sicherlich keinerlei Problem. Und vielleicht konnte er das
jemandem diktieren.
Aber man weiss darüber praktisch nichts Gesichertes - nur das wenige
was Forkel schrieb, der noch die beiden Bach-Söhne C. P. E. Emanuel
und Wilhelm Friedemann persönlich gekannt hat - er hat aber, soweit
ich mich erinnere, darüber nichts gesagt, Forkel 1882, sagte:
"Dieß war Bachs letzte Reise. Der anhaltende Fleiß,
mit welchem er besonders in seinen jüngern Jahren oft
Tag und Nacht ununterbrochen dem Studium der Kunst oblag,
hatte sein Gesicht geschwächt. Diese Schwäche nahm in
den letzten Jahren immer mehr zu, bis endlich eine
sehr schmerzhafte Augenkrankheit daraus entstand.
Auf Anrathen einiger Freunde, die auf die Geschicklichkeit
des aus England zu Leipzig an = gekommenen Augen = Arztes
großes Vertrauen seßten, wagte er es, sich einer Operation
zu unterwerfen, die aber zweymal verunglückte. Nun war
nicht nur sein Gesicht ganz verloren, sondern auch seine
übrige bisher so dauerhafte Gesundheit war durch den
mit der Operation verbundenen Gebrauch vielleicht
schädlicher Arzeneymittel völlig zerrüttet. Er kränkelte
hierauf noch ein ganzes halbes Jahr hindurch, bis er am
Abend des 30sten Julius 1750 im 66sten Jahre seines Lebens
dieser Welt entschlummerte. (1.Ehe:7Kinder,2.Ehe:13Kinder) "
Möge es ihm gut ergehen, wo immer er auch weilt,
denn Ewige Freude ist das Ende aller Wege zu Gott.